Raquel Herzog
Raquel Herzog wurde in der Schweiz geboren und ist dort aufgewachsen. Sie absolvierte die Swiss Hospitality Business School und wurde bald selbständig. Sie gründete zwei erfolgreiche Unternehmen im Bereich Live-Entertainment.
Schockiert von dem Bild des Jungen, der 2015 ertrunken an den Ufern der Türkei gefunden wurde, ließ sie alles hinter sich und begann mit ehrenamtlicher Arbeit bei der Rettung von Bootsflüchtlingen vor Ort in Griechenland.
Sie gründete die SAO Association, um alleinstehenden Frauen mit mit ihren speziellen Bedürfnissen auf der Flucht zu helfen.
SAO betreibt zwei Tageszentren für vertriebene Frauen und Mütter mit ihren Angehörigen – das Bashira-Zentrum auf Lesbos und das Amina-Zentrum in Athen.
Psychosoziale Unterstützung wird von einer professionellen Gruppe von Frauen in einem sicheren Raum angeboten, wo die Würde und die Gleichberechtigung der vertriebenen Frauen von allen SAO-Mitgliedern hochgehalten werden.
SAO unterstützt Frauen auf der Flucht auf ihrem Weg zu einem neuen, unabhängigen und erfüllten Leben in ihren Gastgemeinden.
Warum denken Sie sind Sie so erfolgreich?
Ich denke, ich bin definitiv eine Optimistin. Es hilft sehr überall die positive Seite zu sehen, kleine Schritte zu schätzen und nicht das Gefühl zu haben, die ganze Welt ändern zu müssen, sondern nur ein kleines Stück davon, aber stetig und gründlich. Und ich denke auch, dass es wichtig ist, ein gutes Privatleben zu haben. Gute Freunde, eine gute Familie, gute Menschen, die uns umgeben und uns in dem unterstützen, was wir tun. Was die berufliche Situation heutzutage betrifft, denke ich, dass Erfolg niemals mehr eine Einzelleistung ist, es ist immer Teamarbeit. Man kann eine gute Idee haben, wenn sich niemand dieser Idee anschließt und niemand helfen will die Vision umzusetzen, ist es nicht machbar.
Die bedeutendste Veränderung in meinem Leben geschah, als ich das Foto dieses 3-jährigen Jungen sah, der 2015 im Meer ertrunken ist, als er mit seinen Eltern von der Türkei nach Lesbos überzusetzen versuchte. Dieses Bild hat mich schockiert, und ich fühlte, dass ich nicht nur aufgewühlt vor dem Fernseher oder meinem Computer sitzenbleiben konnte. Ich musste etwas unternehmen. Ich ging an diesem Abend ins Bett, stand aber wieder auf und war über das Gesehene entsetzt. Es hat mich emotional sehr berührt, und dann habe ich einfach blindlings einen Flug nach Lesbos gebucht und beschlossen, einen Monat später dorthin zu gehen, um als Freiwillige zu arbeiten.
Täglich kamen 4.000 Flüchtlinge auf der Insel an, und es war Winter, So viele Kinder hatten Unterkühlungen; es war hart. Ich blieb und habe die SAO Assocation gegründet und von da hat sich alles entwickelt. Die Organisation SAO (In der griechischen Mythologie war SAO eine der 50 Nereiden, Meeresnymphen, Töchter des ‘Alten Mannes des Meeres’ Nereus und der Okeanide Doris) hat die Mission sich in Griechenland für besonders verletzliche, flüchtende Frauen und Mütter zu engagieren
Wir bieten ihnen Schutzräume in denen sie Zuflucht, Orientierung und neue Perspektiven finden, Die Arbeit unseres Fachpersonals konzentriert sich auf Trauma orientierte, psychosoziale Unterstützung.
Täglich sind vertriebene Frauen, Mütter und junge Mädchen erheblichen Risiken und geschlechtsbezogener Gewalt ausgesetzt. Viele sind traumatisiert und leiden unter den langfristigen Folgen des erlebten Missbrauchs. SAO hilft diesen besonders schutzbedürftigen Frauen.
Wie tanken Sie neue Energie?
Ich bewege mich gerne und viel; ich habe einen Hund. Es ist schön, mit ihm spazieren zu gehen und in der Natur zu sein. Im Sommer schwimme ich. So tanke ich neue Energie, in der Natur. Es ist wunderschön. Ich habe kein Talent für Kunst, aber ich mag Kunst. Man kann immer davon profitieren, das spielt keine Rolle. Ich glaube, ich habe einen geschulten Geschmack, weil ich als Kind oft in Museen war. Mir wurde viel über Kunst beigebracht, und ich genieße sie, aber ich selbst bin völlig talentfrei.
Haben Sie einen Rat für uns, wie wir einen guten Umgang mit Flüchtlingen finden können?
Ich denke der Rat, den man Menschen geben kann, die nicht von diesem Thema betroffen sind, ist Flüchtlinge nicht als Flüchtlinge mit einem Stempel auf der Stirn zu sehen, sondern als Menschen, die man trifft. Die Tatsache, dass sie Flüchtlinge sind, ist nur ein Teil ihrer Geschichte, es gab ein Leben davor. Viele unserer Klienten sagen, dass sie zum Beispiel eine glückliche Kindheit hatten. Aber eines Tages gab es einen erheblichen Einschnitt, der alles veränderte. Aber sie werden für immer nur als Flüchtlinge gesehen und nicht mehr so sehr als Individuen. Als wir uns heute das erste Mal trafen, hatten weder Sie noch ich diesen ‘Flüchtlings’-Stempel auf der Stirn, und wir waren aneinander interessiert und haben miteinander gesprochen. Ich denke das geht verloren, wenn eine der Personen dieses Flüchtlingslabel trägt. Das ist schade. Also lautet der Rat, trefft Flüchtlinge als Menschen, als Mitmenschen. Alle Vorurteile kombiniert mit diesem “Stempel”, sind enorm hinderlich. Wir haben fälschlicherweise Vorstellungen wie Flüchtlinge aus einem bestimmten Land sind. Das ist traurig, denn sie sind Mütter, Brüder, Schwestern, was auch immer. Und auch die Menschen einer bestimmten Nationalität sind nicht alle gleich. Wir neigen dazu Menschen einer Nationalität sehr allgemein zu betrachten, aber wir selbst würden nicht gerne als Schweizer nach einem Schweizer Stereotyp gesehen werden. Ein weiteres Vorurteil über Flüchtlinge ist, dass sie Opfer sind. Aber wie wir unsere Klientinnen erleben, haben diese Frauen eine extreme Widerstandsfähigkeit. Wenn ich diese Geschichten höre denke ich oft: “Ich hätte das nicht überlebt.” Unmöglich. Aber sie tun es, also sind sie tatsächlich Überlebende und nicht Opfer. Und damit ändert sich unsere Haltung. Denn dann haben wir nicht mehr eine hilflose Person vor uns, sondern jemanden, der sehr stark ist und vielleicht nur in einer Angelegenheit Hilfe benötigt. Wie ich, ich brauche Hilfe, um meine Steuererklärung zu machen, weil ich in solchen Dingen nicht geschickt bin. Vielleicht ist es eine bürokratische Angelegenheit, vielleicht eine sprachliche Hürde. bei der sie Hilfe brauchen Es ist nicht so, dass eine in einem Bereich hilflose Person all die Hilfe der Welt braucht. Es ist eine koloniale Sichtweise, die Hilfe für eine Gruppe von Menschen als Verweigerung ihrer Würde zu sehen. Und dann geraten wir in eine Haltung des Mitleids, was eine Begegnung auf Augenhöhe verhindert.
Was ist Ihre Utopie?
Es klingt ein bisschen stereotyp, aber wirklich Frieden. Wirklich, Frieden. Ich denke, Frieden ist heute noch wichtiger, nach dem, was aktuell weltweit passiert. Ich bin sehr stark involviert, nicht direkt von Krieg betroffen, sondern von den sekundären Auswirkungen, und das ist bereits schrecklich. Man kann sich nicht vorstellen, wie es ist in einem Kriegsgebietzu leben. Ein Krieg zerstört so Vieles über Generationen hinweg. Deshalb ist Frieden die beste Utopie.
Jetzt das ganze Interview mit Raquel Herzog ansehen
Wir hatten ein Gespräch im März, und das ganze Thema war für mich neu, bewegend und herzzerreißend. Als ich unser Video nochmals ansah, fand ich, dass das Ende völlig unzureichend war. Ich habe auf die SAO Website hingewiesen, weil ich das Gespräch beenden wollte um nicht in Tränen auszubrechen. Also fragte ich dich, ob wir dieses Gespräch über dich und die SAO auf eine gute Weise beenden könnten. Wie hat Dein Engagement begonnen ?
Ich denke, die größte Veränderung in meinem Leben kam, als ich das Bild dieses 3-jährigen Jungen sah, der 2015 im Meer ertrank, als er mit seinen Eltern von der Türkei nach Lesbos überzusetzen versuchte. Ich war so schockiert von diesem Bild und merkte, dass ich nicht einfach untätig vor dem Fernseher sitzen bleiben konnte. Ich fühlte, dass ich etwas unternehmen musste. Ich ging an diesem Abend ins Bett und stand dann wieder auf. Ich war wirklich besorgt über das, was ich gesehen hatte. Es hat mich emotional sehr getroffen. Dann habe ich einfach blindlings ein Ticket nach Lesbos gebucht und beschlossen, einen Monat später dorthin zu gehen, um dort freiwillig zu helfen.
Es kamen täglich 4.000 Flüchtlinge auf der Insel an. Es war Winter, viele der Kinder waren unterkühlt. Die Situation war wirklich schwierig.
Ich bin geblieben und habe die SAO Association gegründet, und alles hat sich von dort aus entwickelt. Das ist im Moment mein Hauptthema in meinem Leben. So bin ich in diese syrischen Flüchtlingskrise an den Küsten Griechenlands gekommen. Ich habe nicht Rettungseinsätze auf See gemacht, aber ich habe auf einem Willkommensboot für Flüchtlinge gearbeitet.
An einem bestimmten Abend suchten wir stundenlang nach einem Boot und seinen Insassen. Plötzlich kam eine junge Frau aus einem Gartentor gestürzt und kam zum Auto und sagte in perfektem Englisch: “Können Sie uns helfen? Wir müssen in ein Lager.” Diese junge Frau war Ruha, damals 23 Jahre alt. Sie erzählte mir, dass sie mit ihrer 93-jährigen Großmutter und zwei Geschwistern auf der Flucht sei. Ich war völlig schockiert, dass jemand in einem so hohem Alter vor dem Krieg fliehen musste.
Wenn ein Boot ankommt, sorgt man dafür, dass alle schnell trocken und warm werden. Dann geht es weiter, man knüpft keine Verbindungen. Man erinnert sich an einige Gesichter, aber man knüpft keine Verbindung. Mit dieser Familie war es anders. Ich lebte vier Monate lang mit ihnen zusammen, weil die Großmutter nirgendwo untergebracht werden konnte. So habe ich beschlossen eine größere Wohnung zu mieten und mit ihnen zusammenzuleben.
Diese Situation war für mich ein vollkommener Augenöffner für die Situation von Frauen auf der Flucht, denn zuvor hatte ich nie darüber nachgedacht. Ich hatte mich erst ein halbes Jahr mit dieser Arbeit beschäftigt, war an diesen Küsten und es kamen Menschen, die Hilfe brauchten. Ich hatte nicht besonders auf Frauen geachtet. Natürlich achtet man als Mutter mehr auf Kinder und denkt, wenn mein Kind in dieser Situation wäre. Ich ging regelmäßig mit Ruha ins Lager und begann mit den Frauen zu sprechen, um herauszufinden, wie ihre Situation im Lager ist. Das war tatsächlich ziemlich schlimm, denn es gab falsche Schutzzonen. Zum Beispiel gab es eine Zone für alleinstehende Frauen, die mit einem großen Zaun umgeben war. Aber die sanitären Einrichtungen befanden sich außerhalb. Wenn nun eine Frau mit einem Handtuch aus dieser Zone herauskommt, ist für jeden Angreifer klar, dass sie schutzlos ist. Die sanitären Anlagen waren gemischt. In dieser Zeit waren viele Frauen aus Afghanistan und Syrien im Lager, die nicht gewohnt sind so nahe bei Männern zu sein. Für sie ist es nicht die gleiche Situation wie in anderen Kulturen.
Die Bevölkerung in diesem Lager begann zu wachsen und zu wachsen, dies mit etwa 2.500 Betten, und sanitären Einrichtungen für etwa 1.800 Personen.Schlussendlich lebten 21.000 Menschen dort. Natürlich war die Hygiene ein großes Problem, Essen war ein großes Problem, Kriminalität war ein großes Problem. Nachts war es nie still. Es gab immer Streitereien, oder Kinder die weinten.
94% der alleinstehenden Frauen auf der Flucht werden vergewaltigt oder attackiert.












Frauen, die ohne den Schutz eines Mannes fliehen, sind ständig in Angst attackiert zu werden. Die Anzahl der Vorfälle ist sehr hoch. Das Problem ist, dass geschlechtsbezogene Gewalt oft schon im Herkunftsland ein Problem ist. Dies ist ein Grund, warum Frauen fliehen. Während der Flucht nimmt die Gewalt noch zu. Wenn eine alleinstehende Frau flieht hat sie meist keine finanziellen Ressourcen. Das bedeutet, dass sie unterwegs sogar gezwungen ist sich selbst zu verkaufen, um sich zu retten und weiterzukommen. Deshalb ist die Anzahl der vergewaltigten Frauen unter den alleinstehenden Müttern auf der Flucht so hoch.
Wir hatten das Gefühl, dass die meisten Frauen einfach einen sicheren Ort suchten, um sich von diesem Stress zu erholen. Das war der Grund, warum wir einen Ort suchten, wo diese Frauen hinkommen können. Sie wissen, dass sie beim Betreten dieses Haus in Sicherheit sind. Sie müssen nicht mehr dauernd ihre Antennen ausfahren und überlegen : “Was könnte mir als Nächstes passieren? Wie vermeide ich eine gefährliche Situation?” Sie können zur Ruhe zu kommen.
Ich habe mit der Seenotrettung zur Aufnahme von Flüchtlingen an den Küsten von Lesbos angefangen und gründete dann bald die SAO Association.
Wir betreiben zwei Tageszentren für vertriebene Frauen und Mütter mit ihren Angehörigen:
Das Bashira-Zentrum auf Lesbos und das Amina-Zentrum in Athen. Psychosoziale Hilfe wird von einer professionellen Gruppe von Frauen in einem geschützten Raum angeboten. Hier wird die Würde und Gleichwertigkeit der Frauen von allen SAO-Mitgliedern respektiert .
Starke und widerstandsfähige Frauen werden auch äußerst verwundbar, wenn sie aus ihrem Heimatland vor Konflikten fliehen müssen Täglich sind vertriebene Frauen, Mütter und junge Mädchen großen Risiken und geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Viele von ihnen sind traumatisiert und leiden unter den Langzeitfolgen des erlebten Missbrauchs.
Die SAO Association unterstützt diese Frauen auf ihrem Weg zu einem neuen, unabhängigen und erfüllten Leben.















Die beiden Tageszentren sind sichere Orte. Vor allem sind es Räume, in die die Frauen eintreten und wissen, hier wird es keine Aggression geben, es werden keine Männer da sein. Keine Männer, aber auch keine andere Aggressoren. Wir behaupten nicht, dass Frauen nicht aggressiv sind, aber wir behaupten, dass wir es innerhalb unserer Häuser nicht tolerieren. Das ist das Konzept des sicheren Raumes.
Männer dürfen nicht ins Zentrum kommen, weil das Hauptproblem das diese Frauen haben, oder die Traumata welche diese Frauen erlebt haben, von Männern verursacht wurden. Sie brauchen einen Ort wo sie ohne Bedrohung sein können. Es ist wirklich gut, wenn sie einen Ort haben wo sie sich völlig frei bewegen können ohne bedroht zu sein. Die meisten Frauen können sich endlich wieder in diesen sicheren Räumen entspannen. Männerfrei bedeutet mehr Sicherheit.
Sie bekommen Einflussmöglichkeiten durch verschiedene Werkzeuge, wie Beschwerdekästen oder anonyme Kommentare. Wir halten Vollversammlungen ab in denen die Frauen über das Programm entscheiden. Es ist auch ein Raum mit der Möglichkeit die Regeln der Demokratie zu lernen und ein Ort wo sie lernen für sich selbst einzustehen.
Der sichere Raum auf Lesbos namens Bashira Center, den wir vor sechs Jahren eröffnet haben und für den wir gerade die Jubiläumsfeier hatten, ist ein recht kleines Haus in der Altstadt. Die Tatsache, dass es acht Kilometer vom Lager entfernt liegt, ist bereits ein Instrument der Stärkung. Wir ermutigen die Frauen den Bus zu nehmen, in die Stadt zu gehen und dort andere Dinge zu tun als nur zu unseren Zentrum zu kommen. Zum Beispiel bieten NGOs Englisch- oder Griechischkurse an welche sie besuchen können. Dies ergibt eine gute Möglichkeit sich ausserhalb vom Lager zu bewegen.
Das Amina- und das Bashira-Haus sind weitgehend gleich. Beide Zentren verfügen über ein professionelles, psychosoziales Programm. Diplomierte Psychologen sind vor Ort. Die ganze Unterstützung wird von griechischen, lizenzierten Fachleuten erbracht. Dies ist der Grund, warum unser Projekt teuer ist. Viele NGOs unserer Größe arbeiten mit Freiwilligen. Wir bewusst nicht, weil wir der Meinung sind, dass der psychosoziale Dienst nur von Profis erbracht werden kann. Zudem müssen es lokale Fachleute sein, da der Sozialarbeiter das System des Landes sehr gut kennen muss.
Wir bieten auch Einzelsitzungen für Frauen an. Wir führen viele Workshops durch, die nicht nur Informationsworkshops sind, sondern auch psychosoziale Workshops, in denen wir herauszufinden versuchen, wie wir die Frauen am besten unterstützen können. Auf Lesbos haben wir zum Beispiel einen Englisch-Konversationskreis. Da die Frauen nicht wissen ob sie in Griechenland bleiben können, sind sie nicht bereit Griechisch zu lernen. Es ist eine andere und schwierige neue Schrift. Wir führen Englischkonversationskurse durch, damit wenn sie aufs Festland kommen wenigstens ein wenig kommunizieren können. Viele Griechen sprechen recht gut Englisch. In Amina erteilt ein professioneller Lehrer individuellen, den Kenntnissen angepassten Griechischunterricht. Einige der Frauen sind Analphabetinnen, weil sie nie zur Schule gehen durften.










Du hast mir erzählt, dass ihr die Frauen ermutigt selbst Entscheidungen zu treffen. Zum Beispiel was sie einkaufen gehen, oder welche Lebensmittel sie besorgen. Habt ihr ein Konzept etabliert?
Ja, eines der Probleme auf Lesbos und auch auf dem Festland ist, dass die Unterstützung welche die Flüchtlinge oder Asylsuchenden erhalten, in Bezug auf Lebensmittel nicht ausreichend ist. Auf Lesbos ist die Lage alarmierend geworden. Bestimmte Menschen, nicht nur Frauen, erhalten keine Lebensmittel. Erhält jemand einen positiven Asylentscheid, dann steht er (oder sie) am nächsten Tag nicht mehr auf der Lebensmittelliste, weil er das Lager verlassen und auf das griechische Festland gehen soll. Aber die meisten dieser Menschen warten etwa einen Monat, um überhaupt die Papiere zu bekommen um gehen zu können. Das bedeutet, dass sie einen ganzen Monat lang keine Nahrung haben.
Menschen, die einen zweiten oder dritten Ablehnungsbescheid haben, bekommen keine Lebensmittel mehr und sind im Lager kaum geduldet. Deshalb gibt es von allen NGOs auf der Insel große Bemühungen diese Menschen mit Lebensmitteln zu versorgen. Andere NGOs stellen Taschen mit Lebensmitteln bereit, speziell zusammengestellt nach Herkunftsland der Menschen. Das ist bereits eine große Hilfe. Im Rahmen unseres Empowerment-Konzepts haben wir beschlossen keine Lebensmitteltaschen zu verteilen. Wir wollen nicht vorbestimmen was diese Menschen essen sollen. Wir bieten ein anderes Konzept an um diese Frauen zu unterstützen. Wir haben mit dem örtlichen Supermarkt gesprochen und kaufen dort Gutscheine. Mit diesen können die Frauen zum Supermarkt gehen und einkaufen, was sie brauchen und was sie wollen. Das ist echtes Empowerment, es geht um Würde und Selbstbestimmung.
Aber das Thema der Hygiene ist immer noch nicht gelöst. Die sanitären Bedingungen im Lager auf Lesbos sind zwar deutlich besser geworden, aber es gibt immer noch nicht genug Non-Food-Artikel. Daher versorgen wir die Frauen immer noch mit Hygienepads, und manchmal haben wir eine große Lieferung von Shampoo und ähnlichen Produkten, die wir zusätzlich an sie verteilen.
Und diese Menschen, die abgelehnt wurden oder noch keinen Asylbescheid erhalten haben, müssen sie auf das Festland gehen?
Nein, diejenigen, denen Asyl gewährt wurde, müssen aufs Festland gehen. Sie müssen auf ihre Papiere warten und dann aufs Festland gehen. Dann müssen sie dort sehr schnell Arbeit finden, denn die Wohnungsprogramme, die eingerichtet wurden, sind problematisch. Ein Programm wurde komplett gestrichen, obwohl es für besonders verletzliche Menschen gedacht war. Ein zweites Programm steht derzeit still, weil es umorganisiert werden soll. Wir sind sehr gespannt wie es sein wird.
Wenn sie im Lager auf Lesbos einen positiven Asylentscheid erhalten und daher einen Monat lang keine Lebensmittel bekommen, müssen sie ihr weniges Geld für Lebensmittel ausgeben. Bis sie auf dem Festland sind, sind sie total pleite. Zudem müssen sie, um in das neue Wohnungsprogramm aufgenommen zu werden, die finanziellen Mittel haben eine Kaution und eine erste Miete zu bezahlen, um überhaupt finanzielle Unterstützung zu erhalten. Das System ist völlig falsch. Viele unserer Frauen erhalten keine Unterstützung bei der Mietzinszahlung. Wenn sie dann die Miete nicht zahlen können, werden sie aus den Wohnungen geworfen.
In der Zwischenzeit ist viel passiert. Du hast eine Auszeichnung vom Roten Kreuz erhalten.
Wir haben den Rotkreuz-Preis 2023 vom Schweizerischen Roten Kreuz erhalten. Er wird alle zwei Jahre verliehen. Das war wirklich großartig für uns, und wir haben uns sehr darüber gefreut. Ich denke, es ist eine sehr schöne Anerkennung die uns auch dabei hilft, Spenden zu sammeln und mehr Aufmerksamkeit zu erhalten. Dies ist für uns wirklich wichtig, denn im nächsten Jahr werden wir keine staatliche Unterstützung mehr haben. Mit der Unterzeichnung der bilateralen Verträge wurde der Verteilmodus für Unterstützungsgelder für uns zum Nachteil geändert.
Ich habe gelesen, dass Du ausgewählt wurdest einen TED-Talk zu halten.
Ja, das war im letzten Jahr im November. Die wichtigste Botschaft steckt schon im Titel.
“Die Frauen, mit denen wir arbeiten sind Überlebende und keine Opfer“. Wir sehen in unseren Projekten oft, dass viel über die Tatsache gesprochen wird, dass es sehr verwundbare Frauen sind, die schwere und tragische Erfahrungen gemacht haben.
Aber die Tatsache, dass sie zu uns kommen und weitermachen wollen, bedeutet, dass sie tatsächlich die Starken und Widerstandsfähigen sind. So erleben wir sie, wenn wir mit ihnen arbeiten.
Du hast uns von der Gruppe Frauen erzählt, die Du am Strand getroffen hast. Wo sind sie jetzt?
Sie sind alle im Jahr 2016 nach Schweden gegangen. Sie haben es geschafft. Die Grossmutter ist 2020 an Corona gestorben. Wir sind uns nicht sicher, aber wir denken, sie war damals etwa 98, weil ihr Geburtsdatum unklar ist. In Syrien wurde damals das Geburtsdatum der Kinder erst nach drei Jahren registriert, weil viele Kinder vorher starben. Daher denken wir sie war etwa 98. Alle drei Schwestern haben studiert und im Sommer abgeschlossen. Die Zweite und die Dritte sind verheiratet. Ich war im letzten Sommer auf der Hochzeit der Zweiten in Schweden, es war echt schön und ich stehe in regelmäßigem Kontakt mit ihnen. Sie sind ein wenig wie meine syrischen Töchter oder Nichten, wir sind wie eine Familie.












Follow up
Es ist immer noch sehr schwer für sie in Schweden zu leben, sie haben keine Aufenthaltbewilligung. Das hängt damit zusammen, dass sie studiert haben. Erst wenn sie Ihren eigenen Lebensunterhalt bezahlen können dürfen sie einen Antrag auf Aufenthalt stellen. Aber das haben sie noch nicht getan, obwohl sie es jetzt könnten, weil sie Arbeit gefunden haben. Aber die letzten sechs Jahr waren sehr, sehr schwer für alle. Zunächst einmal das schwedische Abitur zu machen und dann mit dem gewählten Studium zu beginnen. Natürlich haben sie zu Beginn akademische Studien gemäss ihren Interessen gewählt. Sie stellten dann fest, dass die Sprache immer noch ein Problem darstellt. Ruha, die Älteste studierte Politikwissenschaften, konnte aber nicht mithalten, weil sie z.Bsp. über einen Zeitungsartikel sprechen musste. Bis sie den Artikel verstanden hatte, waren die anderen schon weit voraus. Es stellte sich auch heraus, dass sie mit diesem Studienfach nie eine sichere Arbeitsstelle bekommen würde. Also musste sie die Angelegenheit aus einer pragmatischen Perspektive betrachten. Welche Studienrichtungen garantieren einen Job und dann entscheiden diese Fachrichtung aufzunehmen. Sie ist jetzt Radiologieschwester. Wieder hatte sie keine freie Wahl, aber es gefällt ihr. Ich denke, Corona hat zu einem Wandel in ihrem Denken geführt. Sie war wirklich beeindruckt von dem Gesundheitssystem in dieser Zeit in Schweden und begann, sich dafür zu interessieren. Sie hatte das Sorgerecht für ihre Grossmutter, weil ihre Eltern damals noch nicht genug Schwedisch sprachen. Also war sie diejenige, die sich um Oma kümmerte und mit allen Behörden zu tun hatte, wenn es um ihre Gesundheit ging.
Und mit wem sind sie verheiratet?
Sie sind mit kurdischen Männern verheiratet. Ein Ehemann ist seit seinem vierten Lebensjahr in Schweden, er hat einen schwedischen Pass. Ich denke es hilft, wenn man jemanden heiratet der die Kultur kennt, besonders wenn man in einem völlig fremden Land lebt. Es hilft, die gleichen Wurzeln, die gleichen Ideen und den gleichen Hintergrund zu haben.
Von all diesen Frauen, die die Häuser besuchen, gibt es da ein Follow-up oder verschwinden sie an einem bestimmten Tag ?
Manchmal ja, manchmal nein. Es hängt vom Wunsch der Frau ab. Einige Frauen sagen uns nicht, dass sie weitergehen. Sie gehen einfach. Vielleicht kann man es daran erkennen, dass sie an einem Abend intensiver Abschied nehmen, und dann denkt man, sie kommt wahrscheinlich nicht mehr zurück. Einige schreiben uns viel später. Wir haben gerade einen Fall, bei dem eine Frau nach Schweden gegangen ist. Schweden ist wie Deutschland, in den Vorstellungen der Flüchtlinge sind diese Länder ein Paradies. Sie schrieb eine E-Mail an unsere Feldleiterin und bat sie, allen Frauen mitzuteilen, dass Schweden nicht das ist, was sie denken. Zu sagen, dass sie in Griechenland bleiben und weitermachen sollen. Sie müssen in Schweden von vorne anfangen und das ist sehr schwer. Solche Dinge passieren auch manchmal. Oder es kommt jemand zurück um eine Freundin zu besuchen, die in Griechenland geblieben ist. Aber meistens gehen sie in ihrem Leben weiter, und das ist eigentlich das, was wir erreichen wollen. Wenn sie stark genug sind, um zu gehen und uns zurückzulassen, dann ist unser Ziel erreicht.
Was können wir tun, wie können wir helfen?
Ich denke, Geld ist immer noch der beste Weg zu helfen. Weil bei uns Profis arbeiten, ist Geld der beste Weg, dass es möglich wird, diese Profis zu bezahlen. Übrigens habe ich die Wichtigsten vergessen, die Übersetzerinnen. Sie haben eine doppelte Rolle. Es sind Frauen, die entweder sehr gut Griechisch sprechen, weil sie schon lange in Griechenland sind, oder sehr gut Englisch sprechen und ins Englische für unser Personal übersetzen.
Diese Fachkräfte sind Menschen, die in Griechenland arbeiten dürfen und ein ordentliches Gehalt haben. Viele Organisationen unserer Größe arbeiten mit Freiwilligen. Wir nicht, weil wir glauben, dass der psychosoziale Dienst nur von Fachleuten durchgeführt werden kann. Es müssen lokale Fachleute sein, weil der Sozialarbeiter das System des Landes wirklich gut kennen muss.
Ich halte viel von der Solidarität unter uns Frauen. In einer Gesellschaft zum Beispiel, von Psychologen, zahlen die Mitglieder einen jährlichen Beitrag. Wenn zu diesem Beitrag 20 Franken hinzugefügt würden, könnte mit diesem Geld das Gehalt eines Psychologen in Griechenland bezahlt werden. Das ist so eine Ideevon mir. Für einen Psychologen in der Schweiz wären diese zusätzlichen 20 Franken zum Jahresbeitrag recht einfach zu leisten.
Und für uns wäre das sehr hilfreich. Das wäre eine Art von beruflicher Solidarität die Unterstützung von Berufskollegen in einem anderen Land. Das ist ein Ziel, das wir erreichen möchten.
Es würde am meisten helfen. Denn die große Herausforderung ist, dass nur ein sehr geringer Teil unseres jährlichen Budgets sicher ist, es sind die Mitgliedsbeiträge des SAO-Vereins. Und den Rest kennen wir nicht. Daher ist eine Prognose der Finanzen wirklich schwierig, was es stressig macht. Wir haben inzwischen etwas Erfahrung. Wir wissen, in welchem Monat des Jahres wahrscheinlich mehr und in welchem weniger Geld hereinkommt. Aber es bleibt eine Herausforderung.












Fotos auf dieser Seite zur Verfügung gestellt von: Jojo Schulmeister, Refocusmedialabs, Nikos Palos
Zum Abschluss unseres Gesprächs gib uns bitte einen Ausblick
Ich bin gerade aus Griechenland zurückgekehrt. Und ich bin jetzt noch optimistischer. Ich war im Bashira Center an einem Team-Meeting. Es war so berührend, wie diese Frauen dort zusammenarbeiten. Im Moment sind sie in einer Situation, in der sie nicht wissen, wer innerhalb von manchmal nur zwei Stunden aufs Festland geschickt wird. Also gehen sie die Informationen über jede Frau durch und prüfen, wer Auskunft über sie geben kann. Wenn sie keine Informationen haben, entscheiden sie, wen sie anrufen, um herauszufinden, ob sie auf das Festland geschickt wurde. Sie sorgen dafür, dass sie Internetdaten haben, die sie ihnen schicken können, damit sie, wenn sie auf dem Festland sind, Kontakt zu ihnen aufnehmen können. Dann können sie das Kapitel für sie abschließen. Sie gehen wirklich sehr gründlich durch die Geschichte jeder einzelnen Klientin. Das war absolut erstaunlich, denn so viele Frauen verlassen die Insel und so viele neue Frauen kommen, aber sie behalten den Überblick über jede Frau. Du hörst den Namen einer Frau, und jeder weiß, wer das ist. Das hat mich unglaublich berührt. Also kann ich mich zu 110 Prozent auf mein Team verlassen und stolz sein auf die Arbeit, die in beiden unserer Zentren geleistet wird. Absolut. Es ist fantastisch.
Ich habe einen Beitrag von dir gelesen. Du hast gesagt, wir hatten dieses sechs Jahre Jubiläum, es gab viel Gelächter und viel Tanz. Und ich dachte, das ist es, das hast du erreicht.
Vielen Dank für das Gespräch. Danke. Danke für das, was du tust. Danke für das Licht, das du auf diese Frauen wirfst.
