Uli Sigg


Dr. Uli Sigg studierte Jurisprudenz, war Wirtschaftsjournalist, Unternehmer und Schweizer Botschafter für China, die Mongolei und Nordkorea.
Er ist als Unternehmer, Mäzen und Kunstsammler tätig. So entstand die umfassendste und grösste enzyklopädische Sammlung zeitgenössischer chinesischer Kunst.
Uli Sigg lebt in der Schweiz mit seiner Frau Rita auf Schloss Mauensee.

Warum, denken Sie, sind Sie so erfolgreich?

Also, wenn ich alles jetzt nur auf eines zurückführen muss, was natürlich eine Vereinfachung ist, weil es ja 100 Faktoren sind – die einen sind Eigenverdienst, die anderen sind Glück und die dritten fallen einem aus einem Kontext zu. Aber wenn wir jetzt nach dem Einen suchen würden, dann war es wahrscheinlich diese Erfahrung, die ich im Rudern gemacht habe. Ich war etwa 15 und bin wegen eines Freunds in Stansstad rudern gegangen in einem Ruderklub. Und dort trainierten die Gebrüder Waser, die dann im Jahr 1962 die Bronzemedaille an der Weltmeisterschaft gewannen. Es war die erste Weltmeisterschaft, die es im Rudern gab und sie fand in der Schweiz, am Rotsee, statt.Das war für mich ein Schlüsselerlebnis. Ich habe mir damals gesagt: «Also wenn jemand aus einem so kleinen Dorf wie Stansstad kommt und es schafft, zu den Besten der Welt zu gehören, dann muss das auch für mich möglich sein.» Das war ganz wichtig für mich.

Dass ich das gesehen habe, weißt du? Zwei ganz normale Leute aus einem kleinen Dorf in der Schweiz und sie haben es geschafft, zu den drei Besten der Welt zu gehören. Und da sagte ich zu mir: «Du musst offenbar nicht aus New York kommen oder was weiß ich für einen Background haben. Es ist möglich. Und es muss auch mir möglich sein, zu den Besten der Welt zu gehören. Also kann man sich das zum Ziel setzen.» Und das setzt natürlich viele Kräfte frei. Und ich würde sagen, das war wahrscheinlich das, was mir diesen Schub gegeben hat. Dass ich immer zu den Besten in der Welt gehören will. Aber auch mit dem Wissen, dass es vielleicht überhaupt gar nie oder nur einmal gelingt. «Es ist möglich» – das ist der Kernsatz.
Also, du kannst im Dorf aufwachsen und trotzdem zu den Besten der Welt gehören. Das war für mich ein Riesenantrieb, dass ich mich nie mit weniger bescheiden wollte. Aber immer im Wissen, dass es völlig ungewiss ist, ob man es je schafft. Also, wenn ich es jetzt auf etwas reduzieren müsste, wäre es diese Erkenntnis. Wenn ich chinesische Kunst sammle, passiert das Gleiche. Wenn ich mich dazu entscheide, dann muss es auch die beste Sammlung auf der Welt werden. Das ist sie auch geworden. Oder wenn ich ein Joint Venture in China kreieren will und die Möglichkeit dazu besteht, soll es das erste werden. That’s it.
Bis jetzt haben wir nur eine Dimension angesprochen. Natürlich ist sie nicht die einzige. Aber eines der Hauptkriterien, wenn ich etwas anfange.
Auch ein wichtiger Faktor ist die Empathie, das Interesse am Anderen, das Einfühlen können in den Anderen und seine Sicht verstehen. Ohne diese Eigenschaft hätte ich vieles nicht erreicht. Ich denke, dass du damit sehr viel weiter kommst als ohne. Um Andere zu fördern und ihr Bestes freizusetzen, musst du dich auch in sie einfühlen können. Du musst auch die gut behandeln, die du nicht magst. Die Empathie ist ein Eckpfeiler. Leider eine Gabe, die nicht alle haben.

Ich finde aber, wenn du sie nicht hast, musst du sie entwickeln. Du kannst nicht einfach stehenbleiben, du musst daran arbeiten. Aber wir hatten ja alle lange genug Zeit dafür.Du musst deine Empathie signalisieren können. Die Leute müssen merken, dass du sie hast. Aber auch das können nicht alle, die Empathie empfinden. Ich kann zwar diese Empathie haben, aber es braucht ein Gegenüber. Du musst dich verständlich und fühlbar machen, sonst verpufft deine schöne Gabe.

Haben Sie ein Vorbild oder einen Menschen, der Sie beeinflusst hat?

Nein, ich habe kein Role Model. Ich kenne keines. Außer damals diese beiden Ruderer – das war der Kick. Aber ich habe keine Vorbilder.

Welchen Einfluss haben Natur, Kunst und Schönheit auf Ihr Leben?

Ich sammle Kunst. Es wird behauptet, dass man nur die Künstler seiner eigenen Generation verstehen kann. Ich persönlich glaube das überhaupt nicht. Für viele mag das zutreffen, aber es muss nicht so sein. Und mein Ziel ist natürlich, auch das Allerneuste zu verstehen. Dazu muss ich mich in die Lage der jungen Künstler:innen versetzen. So kann ich ihnen folgen. Und das hält vielleicht am meisten jung, nicht wahr? Meine Zielsetzung ist, die neusten Phänomene in der Gesellschaft aufzunehmen und mich in diese Denkprozesse reinzudenken. Das verschafft mir eben die Kunst. Und dann habe ich natürlich auch engen Kontakt zu diesen jungen Menschen.

Mein Problem ist, wir haben keine Kinder. Diese ganze Erfahrung geht uns ab. Klar, du kannst irgendwo Patin oder Pate sein, aber das ist nicht das Gleiche.Und ich habe zum Beispiel mit einer jungen Künstlerin eine Arbeit entwickelt über das Überwachungssystem in China. Sagen wir, du gehst bei Rot über die Straße. Dann wirst du von einer dieser 400 Millionen Kameras aufgenommen – Face Recognition. Und du bekommst eine Strafe. Daher gibt es jetzt schon etwa fünf Millionen Chinesen, die jetzt nicht mehr sagen können: «Wir gehen ein Ticket kaufen für einen Flug oder für eine Bahnfahrt.» Weil ihre Punktzahl zu schlecht ist. Das kannst du dir gar nicht vorstellen, was da auf uns zukommt. Und natürlich musste das Kunstwerk einen Decknamen haben. Jetzt wird es sogar in China gezeigt. Wir haben das Ganze ewig hin- und hergeschoben, besprochen, verändert. In diesem Prozess lerne ich dann wahnsinnig viel von der jungen Künstlerin. Und sie lernt von mir. Und am Schluss ist das ein echtes Kunstwerk. Das macht schon Spaß.Also das ist für mich wichtig. Dass diese Künstler und Künstlerinnen überhaupt mit mir etwas entwickeln wollen, hängt mit meiner Position in der Kunstwelt zusammen. Künstler wollen ihre Freiheit haben. Deshalb müssen sie überzeugt sein, dass sie auch gewinnen durch diesen Prozess. Aber eben, weil ich diesen Platz in der Welt der Kunst habe, kann ich etwas beitragen. Und das ist, was ich eigentlich am liebsten mache. Besser als ein Finished Product zu kaufen, ist es, eines zusammen mit dem Künstler zu entwickeln und auch in den kreativen Prozess involviert zu sein. Das lassen nicht alle zu, aber viele schätzen es. Viele sagen: «Du bist ein Künstler.» Ich sage: «Nein.» Weil es diese ganz, ganz, ganz tiefe Trennlinie gibt zwischen den Künstlern und mir: Ich habe oft die besseren Ideen, aber sie machen es. Weißt du, ich sehe das ja oft. Ich habe wirklich die besseren Ideen. Aber ich mache es halt nicht. Alle haben wir großartige Ideen, den ganzen Tag. Aber wir machen es nicht. Für mich trennt das die Künstler von den Nicht-Künstlern. Das ist eine ganz substanzielle Differenz und daher kenne ich meine Grenzen. Ich sage dann: «Nein, nein, du bist Künstler, ich bin kein Künstler.» Darin liegt der Unterschied. Wenn ich einer wäre, hätte ich ja auch ein Oeuvre. Habe ich aber nicht.

Ich habe das Gefühl, dass ich teilen muss, weil es mir so gut geht. In der Hälfte meiner Zeit mache ich Dinge für andere, was mir nichts einträgt. Es wollen tausend Leute irgendetwas zu China wissen oder brauchen sonst irgendwelchen Rat. Meine Zeit verbringe ich bewusst so, ohne einen direkten Benefit für mich, aber als Beitrag an die Gesellschaft.

Wie sieht Ihr Utopia aus?

Mein Utopia des Kunstgeschehens ist, dass endlich West und Ost den gleichen Raum bekommen.

Und auch, dass in China die Gegenwartskunst einen anderen Platz bekommt, wäre wichtig. Es herrscht immer noch das Paradigma der Tradition. Das heißt, die Kunst dient zur Erbauung. Wie in der Landschaftsmalerei – diese Kunstform wurde gemacht, um das Sublime zum Ausdruck zu bringen. Die Künstler haben zum Beispiel nie diese Landschaft, die du hier aus dem Fenster siehst, darstellen wollen. Sondern sie haben diese Landschaft angeschaut, dann sind sie in ihre Studios gegangen und haben aus ihrer Imagination heraus eine Landschaft gemalt, die mit der Realität zu tun haben konnte oder auch nicht. Und eben, eigentlich geht es nur um Schönheit und Harmonie. Die Kunst soll uns aus dem Alltag heraus in das Schöne und in die Harmonie führen, uns einen Moment der Unendlichkeit vermitteln. Und Gegenwartskunst hat damit eigentlich nichts zu tun. Gegenwartskunst ist nicht dein guter Freund, weißt du, der dich dorthin bringt. Sondern es geht darum, die Wirklichkeit zu zeigen, wie sie ist. Es geht um Kritik und um neue Denkweisen. Das ist etwas völlig anderes. Und das hat das offizielle China noch nicht verstanden. Und weil das so ist, wird diese Gegenwartskunst so stark zensuriert. Dazu kommt, dass die Regierung die Kontrolle haben will, wie die Projektion von China im Ausland aussieht. Sie will kontrollieren. Alles soll so sein, wie die Regierung es haben will. Aber damit hat die Gegenwartskunst nichts am Hut. Und das ist das Hauptproblem in China. Und deshalb habe ich eigentlich viel unternommen, um diese Wahrnehmung der Gegenwartskunst zu öffnen. Ich habe einen Kunstpreis ausgesetzt, einen Kunstkritikerpreis ins Leben gerufen. Nicht weil ich selber das ändern kann, aber um eine Diskussion in Gang zu setzen, eine breitere, öffentliche Diskussion. Was ist Gegenwartskunst oder was ist Kunstkritik? Eine unabhängige Kunstkritik, und nicht die der offiziellen Institutionen.

Und deshalb habe ich diese enzyklopädische Kunstsammlung begonnen. Wenn dann mal in 20, 30 Jahren die Kinder ihre Mütter fragen: «Was haben eigentlich unsere Künster:innen in jener Zeit getrieben?», dann wird es einen Ort geben, wo du hingehen und die Kunstwerke anschauen kannst. Das war meine Motivation. Du fragst nach dem Ausblick. Niemand weiß, wie rasch – aber eines Tages wird es so stattfinden. Hongkong, wo jetzt das Museum M+ eröffnet wird, ist der Testfall. Das erste Mal wird ein erheblicher Teil der Sammlung gezeigt. Es gibt jetzt ein neues Sicherheitsgesetz in Hongkong. Es wird sich zeigen, wieviel Freiraum man einer solchen Institution noch zugesteht. Aber das sind für mich relativ kurzfristige Überlegungen. Ich bin da relaxed. Es mag ja sein, dass das alles zehn Jahre lang keine Wirkung zeigt, nicht wichtig genommen wird. Aber ich sehe in dieser Sammlung eine langfristige Geschichte, die mit mir nichts zu tun hat. Ich muss auch nicht mehr erleben, dass die Sammlung zu der Geltung kommt, die ihr in China zustehen müsste. Vielleicht passiert das halt später. Aber früher oder später wird es passieren. Also so sieht mein Ausblick aus. Irgendwann wird man die Sammlung im richtigen Licht sehen. Die Chinesen werden ihre eigene Gegenwart besser verstehen und ihre Gegenwartskunst überhaupt erst zur Kenntnis nehmen. Das ist, was ich mir erhoffe.

Welchen Rat würden Sie einem jungen Menschen geben?

Lernt euch selber kennen. Best in Class zu sein, ist ein gutes Ziel.

Weißt du, diejenigen, die sagen: «Das ist doch super: Eine Niederlage. Dann habe ich etwas gelernt.» – mit dieser Aussage kann ich nicht viel anfangen. Eine Niederlage darf dich einfach nicht killen. Du darfst nur so viel riskieren, dass es dich nachher noch gibt. Das ist vielleicht das wichtigste Kriterium. Aber wenn du jung bist, dann setzt du alles auf eine Karte. Dann sagst du: «Das mache ich jetzt, so.» Aber nachher bist du vielleicht ruiniert und bezahlst die nächsten 20 Jahre Schulden ab. Aber wenn du 20 bist, dann sollst du schon mal Gas geben. Du kannst immer wieder von vorne anfangen. Es kann eigentlich nicht viel passieren.

Das Wichtigste ist: Du darfst nur intelligente Fehler machen. Das ist das Allerwichtigste aus meiner Sicht. Es kann immer etwas schiefgehen. Aber dann musst du dir nichts vorwerfen, denn du hast alles richtig überlegt, doch Unvorhersehbares ist eingetroffen und alles hat einen anderen Kurs genommen. Du hast das Risiko gekannt und bist es eingegangen. Wenn dies oder jenes passiert, wusstest du: Dann geht alles schief. Das ist für mich ein intelligenter Fehler. Wo ich mir sagen kann: «Das, was menschenmöglich war, habe ich vorgekehrt.» Ein dummer Fehler ist, wenn man sagen muss: «Warum habe ich nicht an dies oder jenes gedacht?» Oder, jeder hat es kommen sehen. Das ist ein dummer Fehler.

Das Null-Fehler-Leben ist wahrscheinlich das Schlimmste. Für viele ist das zwar genau das Richtige. Aber dann verpasst du einfach sehr vieles.Weißt du, viele Menschen ziehen es vor, nichts zu tun, statt eine Niederlage zu riskieren. Das meine ich damit. Aber es ist besser, du riskierst hie und da eine Niederlage. Dann bekommst du das Gefühl, dass du am Schluss mehr gewinnst als verlierst.

Und du musst immer darauf bedacht sein, dass du mehr Siege als Niederlagen einfährst, das ist das wichtigste.

So lernst du dein Profil kennen, deine Stärken, deine Schwächen, das ist so hochgradig individuell. Und du musst mit deinem hochgradig individuellen Profil zurechtkommen. Nicht mit anderen Profilen. Nicht mit einem Role Model, welches irgendetwas fantastisch gemacht hat. Das ist vielleicht aus einer total anderen Konstitution gewachsen. Also du musst dich selber kennen, den Blind Spot, den du von dir selber hast, den musst du zuerst mal definieren. Und dann musst du ihn eliminieren. Du musst an dir arbeiten. Das hat mich an Asien schon immer fasziniert, diese Selbstkultivierung. Das hat einen ganz hohen Stellenwert in Asien und stammt aus dem Konfuzianismus . Deshalb ist Erziehung so wichtig in Asien, auch bis zur Perversion. Aber es ist nicht so, dass du irgendwann fertig bist – oder dieses «du bist, was du bist».

Sondern du hast diese Aufgabe, dich selber ein Leben lang zu kultivieren, also zu lernen und an dir zu arbeiten. Und ja, da sind wir alle drin. Wir sollten alle ein Leben lang in diesem Prozess sein.

Portrait Uli Sigg | 69 inspiring people
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